Johann Wolfgang von GoetheEine VolkssageFaust. Der Tragödie Erster und Zweiter Teil, kurz Faust I und Faust II, ist eine dramatische Dichtung des deutschen Schriftstellers Johann Wolfgang von Goethe. Es gilt unbestritten als großes Werk der Weltliteratur - und als eines der meist zitierten Werke der deutschen Literatur. Das Drama greift die vielfach von anderen Schriftstellern (u.a. Lessing) aufgegriffene Geschichte der historischen Gestalt des "Doktor Fausten" auf (s. unten). Goethe weitete diese ältere Volkssage zu einer Parabel aus, die gleichsam für Einzelmenschen, die Menschheit und den ganzen Kosmos gilt. Für alle gilt ein Gleiches: Gottes Ziel hinter allen (menschlichen) Tragödien ist die Wiederherstellung der "Harmonie". Auf dem Weg dorthin wird alles und jeder zum Werkzeug Gottes - selbst der Teufel, dem er den Mensch als "den Gesellen" zugibt, der "reizt und wirkt". Das Werk Faust gilt als eines der größten (also: einflußreichsten) Werke der deutschen Literatur. Es hat durch seine Sprache die deutsche Sprache bereichert, und bietet einen Schatz an Zitaten. Sein Held ist der Prototyp des modernen Forschers und Wissenschaftlers, der seiner Welt Gutes und Böses bringt, während er nach höherer Erkenntnis strebt ("Daß ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält"). Der Wissenschaftler wird auch zum Wanderer zwischen alten und neuen Welten. Zwar kann er zu immer mehr Wissen und Gewalt über die Welt gelangen, aber er kann eigentlich keinen der Geister, die er ruft, noch der schlafenden Riesen, die er weckt, kontrollieren. Sie entgleiten ihm und werden so unversehends auch "böse". Faust I wurde von Goethe im Jahr 1806 vorläufig beendet. 1808 wurde das Werk erstmalig abgedruckt. 1828/29 gab Goethe eine überarbeitete Fassung heraus. 1832 folgte der Erstdruck von Faust II in Goethes Nachgelassenen Werken. Noch vor diesen drei gab es 1790 ein Abbdruck von Faust. Ein Fragment. Das Fragment basiert wiederum auf dem zwischen 1772 und 1775 entstandenen Urfaust. Zu diesem Zeitpunkt - der der Werther war noch nicht erschienen - war Goethe bloß einem kleineren Kreis als Dichter bekannt. Auch soll er später das Manuskript des Urfaust vernichtet haben. Uns blieb aber doch eine glückliche Abschrift erhalten, die 1887 in einem Dresdner Nachlaß gefunden wurde. Die FassungDer Text auf den Dichterseiten entspricht nicht wortgetreu der Erstausgabe von 1808 - er ist schon in der neueren Orthografie verfasst, die ab 1901 galt. Goethe schrieb z.B. noch "geheimnißvoll" (statt "geheimnisvoll"), "beym" (statt "beim"), "thun", "Thau" und "Theil" (statt "tun", "Tau", "Teil"), "gemahlte Scheiben" (statt "gemalte Scheiben"), "Thiergeripp´ und Todtenbein" (statt "Tiergeripp´ und Totenbein"), "declamiren", "salutiren" und "associirt" (statt "deklamieren", "salutieren", "assoziiert"), "ärndet" (statt "erntet"), "ihr laset" oder "ihr las't" (statt "ihr last"), "Feyertag" (statt "Feiertag"), "Packt" und "Menschenloos" (statt "Pakt", "Menschenlos"), "Ahndung" (statt "Ahnung"), "Recepte" (statt "Rezepte"), "Fittig" (statt "Fittich"), "Italiäner" (statt "Italiener"), "geitzig" und "zu Grunde gehn" (statt "geizig", "zugrunde gehn") etc. Der Versuch literatische Werke an die geltende Orthografie anzupassen fördert die Sprache selbst. Wenn man etwa den Faust nicht mehr sinnhaftig in eine neue Ortografie anpassen könnte, wenn also zuviel verloren ginge bzw. in der althergebrachten Weise geschrieben bleiben müsste, dann kann es mit dieser neuen Ortografie nicht allzu weit her sein: wenn durch den Transformations-Prozess der Sinn entstellt oder die Versmaße verbogen werden. Die deutsche Sprache ist aber leistungsfähig genug, um auch Fremdworter nicht mehr in der ursprünglichen Sprache deklinieren zu müssen. Es heißt "Cappucinos" (statt "Cappucini") und "downloaden", "googeln" und "mailen". Das Englische folgt dem gleichen Prinzip: man sagt "zeitgeisty", "iceberg", "kindergarden" und "doppelgaenger" (für den Sinn hatten sie nämlich keine bündigen Worte, sondern nur komplexere Ausdrücke). In der vorliegenden Fassung des Faust wurden allerdings mache Worte auch einfach erhalten, z.B. im ersten Teil des Fausts "Toback", "Burgemeister", "Hülfe". Sie bezeichnen eben eine alte Form von Begriffen. Es wurde sehr große Mühe aufgewendet, für die Dichterseiten zu einem authentischen, korrekten Text des Faust zu gelangen: im Hinblick auf Wortlaut, Zeilenumbruch und Interpunktion. Historischer FaustGoethes Faust spielt in Deutschland zur Zeit des ausgehenden Mittelalters. Denn der historische Doktor Johann (oder: Georg) Faust soll 1480 in Knittlingen (Baden-Württenberg) geboren, und 1540 gestorben sein (oder der Teufel rief in ab?). Heute steht in Knittlingen ein Faustmuseum. 1506 wird der Gelehrte erstmalig erwähnt. So ist überliefert, er habe die Wissenschaften seiner Zeit - Jurisprudenz, Theologie, Medizin - durch Astrologie und Alchemie untergraben, und so bis an den Rand der Scharlatenerie hin betrieben. Er hatte den zweifelhaften Ruf eines "Zauberers" und "Schwarzkünstlers". Man vermutete in ihm zudem einen Wahrsager, denn er las in Händen und erstellte Horoskope. Weiterhin sagte man ihm nach, er habe mit dem Teufel paktiert, von dem er "einen Geist namens Mephistopheles zu seinem Dienst bekommen" habe. Mittelalterliches Denken und die populären Mysterienspiele, im Kontrast zum am Ende des 15. Jahrhunderts an Fahrt gewinnenden Humanismus und der Kirchenspaltung, haben den Mythos um die Figur wohl begünstigt. Manchen erscheint Doktor Fausten als Zeitgenosse Luthers etwa wie dessen Gegenbild: der humanistische Wissensdurst und der sinnliche Genuß des Schönen gegen die echten Wahrheiten der Kirche. Faust zu den Verlockungen des Mephistopheles:
Werd ich zum Augenblicke sagen: 1587 erscheint das "Volksbuch", die Historia von D. Johann Fausten. Es handelte sich um eine Sammlung von Geschichten aus dem Leben des Faust, die den Frömmigen und die Gläubigen erbauen sollten. Um 1592 schuf in England der Dramatiker Christopher Marlowe (1564-1593) eine einflußreiche Fassung: das Stück The tragical History of Doctor Faustus. Marlowe selbst soll erstochen worden sein. Sein Stück wurde 1594 posthum in London uraufgeführt und kam über englische Puppenspieler auch nach Deutschland, wo die Sage um Fausts „Verdammnis und Höllenfahrt“ noch blühte. Goethes FaustGoethe hat die Figur des Faust nicht eigentlich erfunden, sondern interpretiert. Allerdings gelang ihm das in überragender Weise. Die beiden Teile enstanden in einem Zeitraum von fast 60 Jahren, sodaß man vermuten darf, es hat der gesammelten Kräfte des Dichterfürsten bedurft, den Text hervorzubringen. Goethe selbst bezeichnete den Faust sogar als „summa summarum meines Lebens“. Das Werk bringt über dem Urfaust Elemente des Sturm und Drang mit, erhält im Zuge der Weimarer Klassik seinen eigentlichen Sinn, und zeigt sich noch durch die aufziehende Romantik beeinflusst. Schon der sehr junge Goethe hatte sich über das großmütterliche Puppenspiel mit dem Stoff beschäftigt (das Spiel basierte auf Marlowes Drama). Auch später begegnete der Stoff ihm wieder, und weckte sein entschiedenes Interesse. Was wir heute Urfaust nennen war Goethe erste Fassung, die noch in Frankfurt entstand. Er hat das Papier vermutlich mit nach Weimar genommen und nach der Überarbeitung in den Jahren bis 1790 vernichtet. Die beiden Teile des Faust entstanden also 1772 bis etwa 1829. Goethe später zu Eckermann: "Der Faust entstand mit meinem Werther; ich brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar. Ich hatte ihn auf Postpapier geschrieben und nichts daran gestrichen; denn ich hütete mich, eine Zeile niederzuschreiben, die nicht gut war." Den Hintergrund des Urfaust bildet die sogenannte Gretchen-Tragödie. In der Endfassung hat Goethe diesen wesentlichen Handlungsstrang (oder muß man sagen: das Fundament?) aber mit anderen tiefsinnig verflochten. Den Überbau des Vorspiels und die Monologe des Faust bezeichnet man auch als die Gelehrten-Tragödie. Zwar ist der gesamte Text nahezu durchgängig in Versen mit Endreim geschrieben, doch wechselt er oft den Stil und das Versmaß. Man findet praktisch jede antike Versform, außerdem Blankverse, Knittelverse und freie Rede. Passend zur den wechselnden Sprachformen überschneiden sich reine Träume, Illusionen und echte Wahrnehmungen in dem Erzählten. Die Gelehrten-TragödieAm Beispiel von Heinrich Faust zeigt Goethe den Versuch des Menschen auf, alle von Gott und Natur gesetzten Grenzen zu sprengen - und sei es durch den eigenen Freitod ("Ich grüße dich, du einzige Phiole"). Oder sollte er sich, bevor es soweit kommt, doch mit dem Teufel und seinen Bütteln einlassen? Der göttliche Keim lässt dem Menschen wie immer die Wahl. Über das Konzept des allgegenwärtigen, freien Willens schützt Gott den Mensch effektiv vor willkürlichen Übergriffen des absolut Bösen. Im Prolog spricht Gott:
Nun gut, es sei dir überlassen! Mephistopheles (der Teufel? ein Gehilfe?) wird von Goethe mit äußerstem Tiefsinn als ein Schalk und hochintelligenter Geist beschrieben, der aus Lust mit der menschlichen Eitelkeit spielt. Er ist kein Höllenwächter mit der Aufgabe, irgendwelche Sünder zu quälen. Mephistopheles zu Gott:
... denn mit den Toten Es ist ihm recht und kommt ihm sogar von Gott her zu, ein tödliches Spiel mit den Menschen zu betreiben. Schön oder gut ist das vielleicht nicht, aber möglich. Also wird es jemand tun. Für die Schönheit, und den "vollkommnen Widerspruch", bleibt dem Menschen immerhin noch die Kunst:
Ich seh es gern, das steht dir frei; Gretchen-TragödieViel spricht dafür, daß die Gretchen-Tragödie Goethe eine Art Grundmotivation / Initialzündung für den Faust war. Es gilt als gesichert, daß Goethe die Tragödie 1772 tatsächlich zu schreiben begann - anhand des Falls der Dienstmagd Susanna Maragerethe Brandt, die im Januar des Jahres in Frankfurt wegen Kindsmord hingerichtet wurde. Sie soll ihr uneheliches Kind getötet haben. Die Verhaftung und Aburteilung der Unglücklichen fanden bei Goethe große Anteilnahme, der zu dieser Zeit als Anwalt der Rechte in Frankfurt niedergelassen war. Zu seiner erlebten Wirklichkeit trat die behördliche Sicht und Aktenlage hinzu. Goethe empfand das Vorgehen als unmenschliche, mittelalterliche Rechtspraxis. Vielleicht auch in der Hoffnung, Empörung über den Fall zu schüren (er befand sich schließlich noch mitten im eigenen Sturm und Drang), schrieb er die Tragödie des Gretchen auf: ein liebendes Mädchen, vom Geliebten schmählich verlassen, ermordet nebenbei ihre Mutter, wird wahnsinnig, ertränkt das uneheliche Kind. Aber: Gretchen geriet nur zwischen die Fronten schicksalshafter Kräfte; man hat sich ihrer bedient. Daß sie dazwischen noch ihren freien Willen wirft (Liebe zu Faust) besiegelt ihr Schicksal. Ihre Liebe ist also ihre einzige Schuld. Damit hat Goethe den Grund aller Tragödien beschrieben: Liebe kann töten. Goethe macht es deutlich. Gretchen ist noch sehr jung ("Ist über vierzehn Jahr doch alt?"), rührend unschuldig, eine Halbwaise. Ganz in die Hausarbeit eingebunden weiß sie nichts von den Härten der Welt. In der Brunnen-Szene erfährt sie später sogar erst, daß Müttern unehelicher Kinder sozial geächtet werden. Ganz im Gegensatz zu ihrem Verführer! Der ist einerseits von ihrer Unschuld berührt, nutzt diesselbe andererseits aber auch schamlos aus. Er schmeichelt ihr und behandelt sie weit über ihrem Stand. Ihm ist jede Täuschung recht. Hinter seiner blendenden Maske ist Faust nämlich ein lüsterner, frustierter, älterer Herr; er ist durch Hexenkraft magisch verjüngt und untersteht dem direkten Einfluß des Bösen. Außerdem hat ihn ein Hexengetränk geil gemacht ("Du siehst, mit diesem Trank im Leibe / Bald Helenen in jedem Weibe")! Oder würde man heute sagen, er steht unter Drogen? Ihre Unschuld lässt Gretchen erst verschüchtert fliehen. Doch als Faust sie mit Hilfe des höllischen Helfers mit Geschenken und Aufmerksamkeiten überschüttet - bricht ihr Widerstand. Einen Anteil hat Gretchen also schon. Schließlich blieb ihr das eigentliche Recht des "Ewig-Weiblichen" erhalten: die Auswahl. Schon früh nutzt sie es, indem sie die berühmte Gretchenfrage stellt: "Nun sag, wie hast du's mit der Religion?". Damit ahnt sie instinktsicher Faustens verhängnisvolles Bündnis mit Mephistopheles - also seine triebhaften Absichten. Der oder das Geahnte sieht die Dinge allerdings aus gewissem Abstand und meint, es seien ihre eigenen, weiblichen Instinkte aus denen sich Gretchens Frage drängt. So sagt Mephistopheles kommentierend zu Faust:
... Doch Faust weicht Gretchens Frage geschickt mit einem verwirrenden, pantheistischem Sprung aus. Später, zum Ende des Stücks als die Ahnung längst Schicksal war, ruft sie ihm weit klarere Worte zu:
Dein bin ich, Vater! Rette mich! Immerhin, aber leider zu spät. Das weibliche ElementIn der die 12.110ten Verszeile des Faust schliesst Goethe mit "Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan". Als Mann muß man dieses Ewige eben ganz gewöhnlich aushalten: man wird angezogen, spreizt die Flügel... wird ausgewählt oder durchgewunken. Das Weibliche ist von Natur aus wählerischer; ist weniger flatterhaft. Dem Mann bleibt als (einziger) Ausweg der Mißbrauch der Kräfte, der gewaltätige Übergriff - und den tut Heinrich Faust dem Gretchen eigentlich im Laufe des Stücks an. Tragisch dabei ist nur, daß sich Gretchen noch in ihren Zerstörer verliebt, sich also aus freiem Willen in ihr Schicksal gibt. Doch der Geliebte folgt weiterhin nur seinen Trieben: nach mehr als der Befriedigung seiner Leidenschaft steht ihm nicht der Sinn. Nachdem er sie geschwängert hat verschwindet er um weiteren Vergnügungen nachzujagen. Als tragisch mag man auch ansehen, daß sich das Thema durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht; es scheint losgelöst von jeder Moral zu sein. Und der Infantizit (Kindermord), den Gretchen in der Folge verübt, ist ein Phänomen, dem schon Tiere unterliegen. Muttertiere neigen zur Tötung der eigenen Kinder, wenn diese noch sehr jung sind und sich Probleme ergeben, mit denen sie nicht rechnen konnten. Sie töten, einfach, um den Moment ihrer Fortpflanzung in einen günstigeren Zeitpunkt in ihrem Leben zu legen. In unseren Kulturen wurde der Infantizit auch oft erlaubt, angeordnet oder zwangsweise durchgeführt. Es gibt ja auch heute noch den behördlich anmutenden Begriff der "Geburtenkontrolle"; und klingt "Abtreibung" nicht schon fast nach einem technisch-automatisierten Ablauf? Der Mensch ist eben beides: der größte vorstellbare Egoist und Altruist zugleich, und in dem Spannungsbogen kann sich jede denkbare Moral entzünden. An einer solchen zerbricht Gretchen, ihre Familie und ihr gerade geborenes Kind. Die Mutter stirbt an einer Überdosis Schlafpulver. Ihr letzter Beschützer, der Bruder Valentin, wird erstochen von der Hand ihres Geliebten (die Mephistopheles geführt hat). Die Szene von Valentins Tod ist ein einziger Vers; zu Beginn ist Valentin noch ganz hingerissen von seiner Schwester:
Aber ist eine im ganzen Land, Am Szenen-Ende liegt er im Sterben, sie verfluchend. Er tut das gründlich und vor versammelter Nachbarschaft. Hier findet also Gretchens eigentliche Hinrichtung statt. Er nennt sie eine Hure und rät ihr
In eine finstre Jammerecken Er stirbt und sie ist nun ohne Beistand. Aus Angst vor der bevorstehenden sozialer Ächtung und der entgültigen Ausgrenzung aus der Gesellschaft tötet Gretchen ihr Kind. Es kommt heraus. Die Tragödie verschärft sich ins Unerträgliche. Denn Gretchen, der Spielball des Schicksals, soll unwürdig auf dem "Blutstuhl" hingerichtet werden. Faust hingegen macht sich munter weiterer Verbrechen schuldig. Obwohl er der Auslöser der Gewalten ist, wird er weder durch ein weltliches noch himmliches Gericht bestraft. Er bleibt seiner früh geäußerten Ansicht treu: "Das Drüben kann mich wenig kümmern, / Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern". So gerüstet quält in auch das eigene Gewissen nicht. Er darf zunächst sein Unglück vergessen und wird in eine Art Paradies wiedergeboren (Faust II, 1. Akt, Anmutige Gegend). Gesandte Gottes retten ihn am Ende des zweiten Teils sogar noch vor dem lauernden Mephisto an seinem Grab und der Hölle, was sie sehr freut:
Gerettet ist das edle Glied
Wer immer strebend sich bemüht,
Und hat an ihm die Liebe gar Seine Rettung ist notwendig geworden, weil er doch eigentlich immer strebend war, also fleissig am göttlichen Heilsplan mitgewirkt hat. Darin schwingt aber auch die Hoffnung, es möge uns allen so gehen, und daß die Hölle leer ist. Der Große Gottes-PlanGoethes Faust ist vielleicht das klarste Zeugnis der Deutschen Klassik. Gott macht deutlich, daß auch die Verneinung Teil seines totalen Planes ist und in die Welt gehört. Ob wir das nun wollen oder nicht. Gott hat das auch nie verheimlicht ("Du darfst auch da nur frei erscheinen"). Wir können also, wenn wir uns öffnen, diesen Plan in der Natur gespiegelt beobachten ("Und wenn Natur dich unterweist, / Dann geht die Seelenkraft dir auf"). Diese Vorstellung brachte Goethe aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit mit, und dachte sie sich später "veredelt" mit den Mitteln des Verstandes. Selbst Mephistopheles ist ganz und gar ein Gottes-Werkzeug. Denn das ist der Plan: alle Widersprüche der Elemente aufheben und so Harmonie (d.h. unverbrüchliche Liebe) erreichen. Noch der Teufel befördert - quasi als Gewerknehmer Gottes - solches Werden. Ob ihm das nun ein Trost ist muß der Leser entscheiden. Denn hier (verkommt?) die Tragödie zur Leibniz'schen Theodizee: einer göttlichen Rechtfertigung, mit der die Super-Monade Gott die Übel der Welt begründet. Oder erst bewirkt. Man könnte ja auch fragen, lieber Gott, was hast Du denn vor Ewigkeiten vermurkst? Du musst es ja mal richtig hingeschmissen haben - warum sonst ist soviel Leid notwendig, den Kosmos wiederherzustellen? Oder man fragt sich: trägt Gott vielleicht überhaupt keine Schuld? Kann er denn schuldig sein, nur weil er dem Menschen Willensfreiheit gab? Trägt also der Mensch die ganze Verantwortung? Das wäre womöglich noch ärger als die Theorie des "Großen Göttlichen Unfalls". Ob wir unseren Mitmensch lieben, nähren, sein lassen oder in Einzelteile zerlegen: alles möglich, alles akzeptabel solange wir nur "strebend uns mühen." Dann kommen wir schon (irgendwie) zurück in die Harmonie mit Allem. Gott wird uns also nicht bestrafen oder verdammen; damit machte er sich doch nur unglaubwürdig. Denn sein Plan braucht das Böse damit er aufgeht. Gerichte und Strafen bleiben einige weltliche Parameter mehr. Fazit: wir müssen nicht an Gott glauben. Denn Gott glaubt schon an uns. Auch im Christentum ist etwas Ähnliches verankert; die Kirche hat das mit Gottesfurcht vermantelt und verklärt es in tausend Zeremonien und Ämtern. Es sind die Seligpreisungen der Bergpredigt. Was sagt Jesus denn eigentlich? Wir würden durch ihn erlöst. Weil wir vergaßen, daß wir schon frei sind unter der unbedingten Liebe Gottes. "Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch" sagt das Lukas-Evangelium. Wir hatten uns zu weit entfernt vom Beispiel des Paradieses. Ein Prophet mußte kommen um uns zu erinnern. Gott hat euch erlöst, und das ermöglicht euch erst das Leben! Weder müsst ihr ihm gefallen, noch werdet ihr durch ihn gerichtet. Nichts kann mehr Erlösung rückgängig machen. Also fürchtet Gott nicht! Fürchtet den Menschen. Indem er sich weder eindeutig auf die Seite des Guten noch des Bösen schlägt, macht Goethe den Leser zum eigentlichen Meister des erzählten Stoffs. Nur der Leser kennt schließlich die wirklichen, lebendigen Tragödien. Nur er kann sich das nächste Modell aus dem nächsten Fach der Unendlichkeit klauben, daß sie - immerhin eine zeitlang - erklärt. Schon in den ältesten Geschichten wurde unmißverständlich klar gemacht: glaubt bloß nicht, Götter wären notwendigerweise gütig oder fair oder faßbar. Hütet euch vor ihnen! Sie könnten einfach nur grausam sein: "So wie die Götter Griechenlands, / So ist auch er ein Teufel". Und so wie der göttliche "Teil des Teils, der anfangs alles war" zum Mephistopheles wurde, lauert das Böse überall und tritt überall hervor. Es ist nur eine Frage der Zeit. Goethe schaffte es, im selben Text die kosmische Werdung und die Werdung eines Einzelnen gleichzustellen. Der "Große Gottes-Plan" kann auch Richtschnur für ein "moralisch sauberes" Menschenleben sein. Die Aufhebung aller Widersprüche in der Welt scheint dann nicht weniger zu sein, als die Aufhebung der Widersprüche im Ausdruck irgendeines einzelnen Menschen. Denn da war einmal bloß ein Keim. In die eine Richtung sproß er gut, in die andre böse. Dieses Schicksal (durch Gott) ist die reine Schuld, die Liebe (der Menschen) die reine Unschuld. Himmel und Hölle sind eins, halten sich in derselben Sphäre auf. Wie in jedem Menschen, den die Instanz seines Körpers determiniert. Deshalb kann man auch von Einen das Andere "zu Fuß" erreichen, wie Goethe schon im Prolog klarstellt:
... 25.11.2005/asp Erstauflage: 1808.
Enthält 2 Kapitel und insgesamt 28 lyrische Texte.
Vorspiel
Erster Teil
Hier finden Sie eine Aufstellung aller Buch- und CD-Empfehlungen zu diesem Dichter. Einige Empfehlungen speziell zu diesem Buch: |